Hinweis: Die dgti e. V. informiert hier auf Grundlage von Erfahrungen aus der psychosozialen Beratungspraxis. Wir leisten keine medizinische Beratung. Entscheidungen zu Diagnostik, Therapie und Kostenerstattung liegen ausschließlich im ärztlichen bzw. kassenärztlichen Bereich. Dieser Text ersetzt keine individuelle medizinische oder juristische Beratung.
Die Frage: nicht-binär und Hormontherapie – also ob nichtbinäre Menschen einen Zugang zu Testosteron oder Östrogen haben, lässt sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Medizinisch möglich ist beides. Aber der Weg dorthin ist oft geprägt von Bürokratie, Missverständnissen und struktureller Ignoranz. Der Hintergrund: Unser Gesundheitssystem ist auf binäre Geschlechtsidentitäten ausgerichtet – und blendet andere Realitäten weitgehend aus. Wir zeigen auf, was gleich ist, wo die Unterschiede zur Praxis für binäre, trans*geschlechtliche Thereapien liegen, und welche Strategien nicht-binäre Menschen nutzen, um dennoch Zugang zu einer individuell passenden Behandlung zu bekommen.
Was bei Testosteron und Östrogen gleich ist
Wer eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung möchte – egal ob mit Testosteron oder Östrogen –, muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Diese gelten auch für nicht-binäre Personen:
- Ein Indikationsschreiben von einer psychotherapeutisch tätigen Fachkraft ist erforderlich. Wenn Mensch bereits in Therapie ist, hat man diese Hürde schnell genommen. Andernfalls ist hier leider oft die Wartezeit auf einen Therapieplatz einzurechnen.
- Die Behandlung erfolgt über eine*n Endokrinolog*in,hier muss in der Regel eine längere Wartezeit eingeplant werden. Die S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung im Kontext von Geschlechtsinkongruenz gibt den medizinischen Standard vor.
- Die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt die Kosten nur, wenn ein klar formulierter Transitionswunsch dokumentiert ist – in der Regel in binären Begriffen.
- Nicht-binäre Identitäten werden im kassenärztlichen System formell meist nicht berücksichtigt.
Unterschiede bei der Behandlung mit Östrogen
In der Praxis zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Testosteron- und Östrogenbehandlungen. Diese betreffen sowohl medizinische Aspekte als auch gesellschaftliche Zuschreibungen und das Verhalten von Krankenkassen.
Thema | Testosteron | Östrogen |
---|---|---|
Wirkung | Schnell sichtbar: Stimme, Muskelaufbau, Haarwuchs | Eher subtil: Haut, Brustgewebe, Gefühlslage |
Gesellschaftliche Einordnung | Häufig als „trans Mann“ akzeptiert | „Trans Frauen“ werden oft mit Vorurteilen belegt |
Formulierung im Indikationsschreiben | „transmaskulin„, „männlich identifizierend“ | „transfeminin„, „weiblich identifizierend“ |
Haltung der Krankenkassen | Eher pragmatisch | Häufig stärker kontrolliert, teils mit Verdacht auf Fehlgebrauch |
Zugang zur Medikation | Teils auch über Hausärzt*innen möglich | Strenger reguliert, Antiandrogene nötig, engmaschiges Monitoring |
Besonders problematisch ist die Haltung vieler Kassen gegenüber nicht-binären Personen, die feminisierende Hormone wünschen. Hier wird der Wunsch häufig hinterfragt oder mit pathologisierenden Unterstellungen versehen.
Nichtbinäre und Hormontherapie: Was Menschen konkret brauchen
Nicht-binäre Personen, die eine hormonelle Behandlung anstreben, gehen meist strategisch vor. Erfahrungswerte aus der Praxis zeigen, dass folgende Faktoren hilfreich sein können:
- Ein Indikationsschreiben, das klare – oft binäre – Formulierungen enthält, wie etwa: „Ausgeprägte Geschlechtsdysphorie mit dem Wunsch nach feminisierender (oder maskulinisierender) Hormonbehandlung mit langfristiger Perspektive.“
- Eine psychotherapeutische Fachperson, die offen für nicht-binäre Lebensrealitäten ist und keine Gatekeeping-Logik verfolgt.
- Eine endokrinologische Praxis mit Erfahrung in der trans* Gesundheitsversorgung.
- Eine durchdachte Kommunikation mit der Krankenkasse. Einige Personen nutzen Begriffe wie „transmaskulin“ oder „transfeminin“, um die Genehmigung zu erleichtern – obwohl sie sich selbst nicht so identifizieren. Dies ist juristisch heikel und von uns als Verein nicht empfohlen, aber es ist eine häufig beobachtete Praxis.
Was tun, wenn die Kasse ablehnt?
Wer keine Kostenübernahme erhält, hat nur begrenzte Alternativen – keine davon ist ideal:
- Privatzahlung: Manche Hausärzt*innen stellen ein Privatrezept aus. Die Medikamente müssen dann selbst bezahlt werden.
- Online-Versorgung: Es gibt internationale Plattformen mit digitalen Rezeptdiensten. Diese bewegen sich rechtlich in einer Grauzone. Hiervon raten wir als dgti entschieden ab, da viele Medikamentenfälschungen im Netz unterwegs sind.
- DIY-Community: In Foren oder Selbsthilfegruppen wird öfter über Selbstmedikation gesprochen, hiervon rät die dgti rät ebenfalls, auch aus medizinischen Gründen entschieden ab. Hormone sollten niemals ohne ärztliche Überwachung eingenommen werden.
- Transition ohne Hormone: Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Personenstands- und Namensänderung auch ohne Hormontherapie möglich ist. Das Selbstbestimmungsgesetz ermöglicht seit 2024 vereinfachte Verfahren.
Mikrodosierung als Alternative
Nicht alle nicht-binären Personen wünschen sich eine vollständige körperliche Anpassung. Manche wollen nur einzelne Wirkungen wie z. B. ein ruhigeres Gefühlsleben, weichere Haut oder eine tiefere Stimme. Hier kann eine Mikrodosierung sinnvoll sein. Diese sollte stets ärztlich begleitet werden, da auch bei geringen Dosen relevante körperliche und psychische Veränderungen auftreten können. Die WPATH Standards of Care Version 8 behandeln auch nicht-binäre Behandlungsansätze.
Psychische Auswirkungen nicht unterschätzen
Sowohl Testosteron als auch Östrogen haben Einfluss auf die Stimmung, das Erleben und die Selbstwahrnehmung. Viele Personen berichten von intensiveren Emotionen, innerer Unruhe oder veränderter Reizbarkeit. In dieser Phase ist eine therapeutische Begleitung besonders wichtig, um emotionale Herausforderungen frühzeitig auffangen zu können.
Systemhürden? Ja. Aber du bist nicht allein.
Das System verlangt von nicht-binären Menschen Anpassungsleistung, wo eigentlich Versorgung notwendig wäre. Viele gehen kreative Wege, um ihr Ziel zu erreichen – ohne sich selbst zu verleugnen, aber mit strategischer Klugheit. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes dokumentiert strukturelle Diskriminierung und wie man ihr begegnen kann. Wir als Deutsche Gesellschaft für trans*- und inter*geschlechtlichkeit e.V. beobachten diese Entwicklungen mit Sorge. Wir verstehen, warum manche Menschen bestimmte Begriffe wählen, um Zugang zu erhalten. Und wir setzen uns politisch dafür ein, dass solche Umwege in Zukunft nicht mehr nötig sind.
Peer-Beratung und Unterstützung
Du suchst Austausch, Orientierung oder praktische Tipps? Die dgti e. V. bietet vertrauliche Peer-Beratung durch trans*, inter* und nicht-binäre Menschen an. Hier bekommst du Unterstützung auf Augenhöhe – offen, solidarisch, und ohne Schubladendenken.
Engagieren, informieren, Haltung zeigen
Willst du mehr wissen, dich einbringen oder einfach klar Haltung zeigen? Dann informiere dich über die Lebensrealitäten von trans*, inter* und nicht-binären Personen. Das Regenbogenportal des BMFSFJ bietet fundierte Informationen zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Achte auf inklusive Sprache, unterstütze Organisationen wie die dgti e. V. und setze dich ein für echte Gleichbehandlung im Alltag – nicht nur auf dem Papier.
Hilf mit – für eine Gesellschaft, die niemanden ausschließt
Spende an die dgti e. V. und unterstütze den Kampf gegen Diskriminierung, strukturelle Hürden und rechtliche Grauzonen. Jede Unterstützung hilft, die Lebensrealitäten von trans*, nicht-binären und inter* Menschen sichtbarer, sicherer und gerechter zu machen. Denn eine Gesellschaft, in der jeder Mensch respektiert wird, beginnt mit Zuhören – und Handeln.