Am vergangenen Wochenende fand in Berlin ein Vernetzungstreffen der international agierenden Organisation SEGM (Society for Evidence-based Gender Medicine) statt. SEGM ist bekannt für ihre pseudowissenschaftliche Argumentation gegen geschlechtsaffirmative Gesundheitsversorgung und ihre Nähe zu transfeindlichen sowie ideologisch geprägten Gruppierungen.
Besonders besorgniserregend ist der Auftritt von Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, als Eröffnungsredner der Veranstaltung – ein Programmpunkt, der im Vorfeld geheim gehalten wurde. Damit stellt sich ein führender Vertreter der deutschen Gesundheitsversorgung an die Seite einer Organisation, deren Mitglieder durch unwissenschaftliches Arbeiten auffallen und teils Verbindungen zu evangelikalen Gruppen und Kreationisten aufweisen.
In seiner Rede betonte Dr. Reinhardt:
„Unsere Verantwortung als Ärzte besteht darin, den wissenschaftlichen Fortschritt zu fördern und Behandlungspfade zu gestalten, nicht durch Ideologie, sondern durch einen reflektierten Dialog und unter Berücksichtigung der bestmöglichen Evidenz im Interesse unserer Patienten.“
Diese Aussage steht im Widerspruch zur tatsächlichen Praxis von SEGM. Die Organisation beruft sich unter anderem auf die umstrittene These von Dr. Lisa Littman, deren Arbeiten in der Fachwelt stark kritisiert wurden. Gleichzeitig nutzt SEGM selektiv einzelne Studien, um pauschale Angriffe auf geschlechtsangleichende medizinische Maßnahmen zu rechtfertigen – ohne Rückhalt durch die wissenschaftliche Community.
SEGM-Mitglieder veröffentlichen kaum peer-reviewte wissenschaftliche Artikel, sondern agieren vor allem durch Leserbriefe und Stellungnahmen zu Anti-Trans-Gesetzgebungen. In einem besonders gravierenden Fall bezahlte SEGM ein Forschungsteam der McMaster University für systematische Reviews, deren Ergebnisse später verfälscht dargestellt wurden. Das Forschungsteam distanzierte sich öffentlich von dieser Instrumentalisierung und betonte, dass das Vorenthalten geschlechtsangleichender Maßnahmen auf Basis schwacher Evidenz eine Verletzung evidenzbasierter, partizipativer Entscheidungsfindung darstellt.
Dr. Reinhardts Teilnahme an diesem Treffen wirft Fragen auf: Wenn er sich tatsächlich für evidenzbasierte Medizin einsetzen möchte, sollte er die AWMF-Leitlinien zur trans Gesundheitsversorgung* unterstützen – Leitlinien, die von wissenschaftlichen Fachgesellschaften erarbeitet wurden und höchste Evidenzstandards erfüllen. Stattdessen legitimiert er durch seine Präsenz eine Organisation, die diese Leitlinien angreift und diskreditiert.
Ebenfalls alarmierend ist die Unterstützung von sogenannten „explorativen Psychotherapien“, die auf der Konferenz thematisiert wurden. Dazu äußert sich Cornelia Kost, Psychologin und Vorstandsmitglied der dgti e.V.:
„Dr. D’Angelo forderte auf der Konferenz ‚explorative Psychotherapie‘ insbesondere für Jugendliche. Das ist keine in Deutschland zugelassene Therapieform, noch gibt es dafür auch nur den geringsten Nachweis einer Wirksamkeit. Es ist zu mutmaßen, dass hier verschleiert Konversionstherapie propagiert wird. Diese ist in Deutschland an Jugendlichen ausdrücklich verboten. Es muss erschrecken, dass sich der Ärztekammerpräsident in solchen Kontext bringen lässt.“
Die dgti e.V. hatte bereits im Zusammenhang mit den transfeindlichen Beschlüssen auf dem Ärztetag 2024 einen Beschwerdebrief an Dr. Reinhardt gerichtet – eine Antwort blieb bis heute aus.
Quellen und weitere Informationen:
Bernard Lane, 11.9.2025, Evidence over ideology, https://www.genderclinicnews.com/p/evidence-over-ideology
Mallory Moore, 26.8.2021, SEGM uncovered: large anonymous payments funding dodgy science, https://transsafety.network/posts/segm-uncovered/
McMaster University Department of Health Research Methods, Evidence, and Impact (HEI), 14.8.2025, Systematic reviews related to gender-affirming care, https://hei.healthsci.mcmaster.ca/systematic-reviews-related-to-gender-affirming-care/
Boulware, Susan D.; Kamody, Rebecca; Kuper, Laura; McNamara, Meredithe; Olezeski, Christy; Szilagyi, Nathalie; Alstott, Anne, 28.4.2022, Biased Science: The Texas and Alabama Measures Criminalizing Medical Treatment for Transgender Children and Adolescents Rely on Inaccurate and Misleading Scientific Claims https://files-profile.medicine.yale.edu/documents/98a6e83f-d1ac-4098-b67a-25be370aec2b
Dgti, 10.6.2025, Transfeindliche Konferenz in Berlin geplant – hinter seriösem Anstrich steckt Pseudowissenschaft, https://dgti.org/2025/06/10/pressemitteilung-transfeindliche-konferenz/
Cornelia Kost, 16.6.2025, Die Lügen der transfeindlichen Junk Science entlarven, https://dgti.org/2025/06/16/fachartikel-transfeindliche-junk-science/
Zum Weiterlesen: Transfeindlichkeit als Kulturkampf, ARD-Faktenfinder vom 11.1.2023
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/kontext/transfeindlichkeit-101.html
Weiterlesen: SEGM-Treffen: Kritik an Auftritt von Dr. Klaus Reinhardt bei transfeindlichem Netzwerk in BerlinSpende gern für unsere Arbeit! Danke!