Kommentar zu den Entwürfen der Standards of Care V8 (SoC V8), der WPATH

Die WPATH (World Professional Association for Transgender Health) legte im November/Dezember 2021 ihren Mitgliedern und der interessierten Öffentlichkeit einen Entwurf der Standards of Care in der 8. Version vor.

Diese Überarbeitung der siebten Version von 2012 wird von der dgti begrüßt.

Positiv bemerkbar machen sich die Herabsetzungen des Mindestalters für geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Jugendlichen, sowie die explizite Sichtweise auf nicht-binäre Personen und deren Gesundheitsbedarfe; auch sind auch weitere Vereinfachungen in den Standards positiv zu sehen.

Kritisch anmerken möchten wir die Trennung der Kapitel von trans* Kindern und Jugendlichen, die so gesehen keinen Sinn ergibt, da Kinder und Jugendliche in der Medizin grundsätzlich nicht unterschiedlich behandelt werden (es gibt keine eigenen Kinderpsycholog*innen oder Ärzt*innen nur für Jugendliche, diese werden immer zusammengefasst).

Höchst problematisch befinden wir die Besprechung der sogenannten „Littman-Studie“, eine Untersuchung, inwiefern sich Jugendliche durch Social Media haben beeinflussen lassen und dadurch „plötzlich“ erklären würden, trans* zu sein. Diese Studie wurde mehrfach als unwissenschaftlich kritisiert[1][2] und musste auch inhaltlich korrigiert werden, da sie in keiner Weise wissenschaftlichen Standards und Ansprüchen genügt. Der Herausgeber des Magazins entschuldigte sich daraufhin bei der trans* Community.[3] Des Weiteren belegen Studien[4], dass es keinen sprunghaften Anstieg der Prävalenz von trans* Personen gibt und auch keine Evidenz für ein solches klinisches Phänomen[5]. Kurz gesagt: Es existiert kein „ROGD“ Phänomen.

Trans* Kindern und Jugendlichen eine Behandlung erst nach mehrjähriger Geschlechtsdysphorie zu gewähren, wie die geplanten Standards in der achten Version empfehlen sollen, grenzt an Verweigerung einer notwendigen Behandlung. Es ist zu befürchten, dass der deutsche Medizinische Dienst (MDS), der auch in seiner zuletzt aktualisierten Begutachtungsanleitung trans* Kinder und Jugendliche faktisch ausschloss, hier ein generelles Behandlungsverbot einführen könnte. Dabei gilt: Kinder und Jugendliche haben Rechte. Dazu gehört „ein Leben entsprechend der eigenen, subjektiv empfundenen geschlechtlichen Identität zu führen und in dieser Identität anerkannt zu werden.“[6] Eine medizinische Behandlung der Geschlechtsdysphorie gehört zwingend dazu.

Zur Behandlung mit Cyproteronacetat (Androcur) teilen wir die Besorgnis der WPATH bezüglich der Krebsgefahr und verweisen hier auch auf den Rote-Hand-Brief des Bundesministeriums für Arzneimittel und Medizinprodukte von 2020[7]. Des Weiteren fördert Androcur Depressionen und damit die Suizidgefahr[8], weshalb wir hier ein Umdenken der deutschen Endokrinolog*innen fordern.

Eine generelle Zulassung der Medikamente zur Hormontherapie bei Geschlechtsdysphorie steht auch nach ca. 100 Jahren Behandlung von trans*, inter und nicht-binären (TIN*) Personen in Deutschland immer noch aus. Wir fordern eine entsprechende Zulassung und einen gesetzlich verankerten Anspruch auf Kostenübernahme im Sozialgesetzbuch.

Das Kapitel zu nicht-binären Personen lässt hoffen, dass diese Gruppe künftig auch in Deutschland in der Gesundheitsversorgung anerkannt wird und Zugang zu dieser erhält. Bislang wird dies vom  Medizinischen Dienst verweigert, obwohl der Gesundheitsreport des Robert-Koch-Instituts und des Bundes dies bereits Anfang 2021 kritisierte[9].

Die geplante Einführung von den Begriffen „Male-to-Eunuch“ und der Kategorie „Eunuchen“ lehnen wir ab. Dieses Kapitel ist methodisch und wissenschaftlich kritisch zu sehen. Die medizinischen Behandlungsempfehlungen gleichen denen von nicht-binären Personen und können mit diesen zusammengelegt werden.

Der Empfehlung, eine Psychotherapie nicht als Pflichtmaßnahme zu betrachten, schließen wir uns hingegen an. Dies wurde auch schon in den AWMF S3-Leitlinien bei Geschlechtsdysphorie empfohlen, aber vom Medizinischen Dienst wissentlich in seiner Begutachtungsanleitung bei F64.0 verschwiegen und stattdessen zur Pflicht erklärt. [10]

Insgesamt erhoffen wir uns durch die kommende Einführung eine Verbesserung in der Gesundheitsversorgung, auch was die reproduktive Gesundheit betrifft. Hier weist das deutsche Gesundheitssystem Nachholbedarf auf, die Kosten für Kryokonservierungen und Kinderwunschbehandlungen werden bislang nicht von den Kassen übernommen. Samenbanken und Kinderwunschkliniken weisen hohen Fortbildungsbedarf zur TIN*Thematik auf.

Die Empfehlungen der WPATH zur reproduktiven Gesundheit und zur Bildung teilen wir, ebenso die weiteren Empfehlungen.

Referenzen:

[1] Serano, Julia: Everything you need to know about Rapid Onset Gender Dysphoria, Medium.com, 22.8.2018.

[2] Restar, Arjee Javellana: „Methodological Critique of Littman’s (2018) Parental-Respondents Accounts of ‚Rapid-Onset Gender Dysphoria'“. Archives of Sexual Behavior 49 (1): S. 61–66, 22.4.2019.

[3] Heber, Joerg: Correcting the scientific record on gender incongruence – and an apology, PLOS Blogs, 19.3.2019.

[4] Jones, Jeffrey M.: LGBT Identification rises to 5,6% in latest U.S. estimate, Gallup Study 2021, 24.2.2021.

[5] Bauer, Greta R.; Lawson, Margaret L.; Metzger, Daniel L: Do Clinical Data from Transgender Adolescents Support the Phenomenon of “Rapid Onset Gender Dysphoria”? The Journal of Pediatrics, 15.11.2021.

[6] Deutscher Ethikrat: Trans-Identität bei Kindern und Jugendlichen: Therapeutische Kontroversen – ethische Orientierungen, AD-HOC-EMPFEHLUNG, Februar 2020.

[7] Bundesministerium für Arzneimittel und Medizinprodukte: Rote-Hand-Brief zu Cyproteronacetat: Anwendungsbeschränkungen aufgrund des Risikos für Meningeome, 16.4.2020.

[8] Siehe: Gebrauchsinformation: Jenapharm.

[9] Dennert, Gabriele et al: Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen, Journal of Health Monitoring 5 (S1), Robert-Koch-Institut, 2020.

[10] Siehe: Wilken, Jenny: Stellungnahme zur neuen Begutachtungsrichtlinie bei Geschlechtsinkongruenz/Transidentität (Transsexualität) des MDS, dgti e.V., 5.2.2021.

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