Der tägliche Kompromiss: Brustbinden zwischen Selbstbestimmung und Systemversagen

Für unzählige trans* und nichtbinäre Menschen ist das Abflachen der Brust kein Wunsch, sondern eine Notwendigkeit zum Überleben. Es ist der Versuch, das eigene Spiegelbild mit der inneren Realität in Einklang zu bringen und die zermürbende Last der Geschlechtsdysphorie zu lindern. Doch diese Praxis ist selten eine freie Wahl. Sie ist oft die einzige verfügbare Option in einem System, das den Zugang zu medizinischer Transition erschwert. So wird das Brustbinden zu einem täglichen Abwägen zwischen psychischer Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit.

Von der Offenbarung zur Odyssee: Die Realität des Bindens

Der Moment, in dem der eigene Körper zum ersten Mal kongruent erscheint, kann eine Offenbarung sein. Vic, eine nichtbinäre Person, deren Brust immer im Fokus ihrer Dysphorie stand, beschreibt diese Erfahrung: „Ich hatte mir einen Binder für eine Verkleidung gekauft und zog ihn an. Ich habe mich plötzlich so gut gefühlt. Ich hatte den Binder an, eine kurzhaarige Perücke auf und dachte: Wow, oh mein Gott, irgendwas muss ich ändern.“

Doch auf die anfängliche Erleichterung folgt oft eine schmerzhafte Realität. Die Suche nach einer erträglichen Methode wird für Vic zur Qual. „Mein erster Binder war ein billiges Amazon-Modell mit Reißverschluss. Ich habe schnell gemerkt, dass es auf Dauer viel zu sehr weh tut.“ Auch ein hochwertiger, passender Binder brachte keine Lösung: „Ich kaufte einen besseren Binder und achtete auf die Größe. Beide konnte ich nach einer halben Stunde nicht mehr aushalten. Ich bekam unglaubliche Rückenprobleme, hatte Schmerzen und konnte kaum atmen.“, bemerkte Vic. Besonders im Sommer wird das Tragen zur Tortur. Man schwitzt, fühlt sich eingeengt und der konstante Druck lenkt die mentale Aufmerksamkeit permanent auf die Brust, anstatt von ihr abzulenken.

Taping: Ein detaillierter Guide aus der Praxis

Für viele wird Taping zur Hoffnung. Es verspricht Bewegungsfreiheit ohne die Kompression eines Binders. Doch der Weg dorthin ist gepflastert mit Trial-and-Error.

Die ersten Fehler: Was alles schiefgehen kann

Der Lerneffekt ist steil und schmerzhaft. „Beim ersten Versuch habe ich Hautröllchen zusammengeklebt, was unglaublich juckte. Beim Entfernen habe ich dann meine oberste Hautschicht mit abgerissen und war immer noch voller Kleber.“ Die Qualität des Tapes spielt dabei eine große Rolle. Günstiges Material kann Kleberückstände hinterlassen, die kaum zu entfernen sind.

Die Technik verfeinern: Eine persönliche Anleitung

Mit der Zeit entwickeln viele eigene, angepasste Methoden. Hier ist die Technik, die für die interviewte Person funktioniert hat:

  1. Schutz der Brustwarzen: Statt Toilettenpapier, das bei Nässe aufweicht, eignen sich kleine, weiche Stoffquadrate aus einem alten Baumwoll-T-Shirt.
  2. Tape vorbereiten: Die Ecken der Tape-Streifen sollten rund geschnitten werden, damit sie sich nicht so leicht ablösen. Die Streifen wurden in zwei oder drei Quadrate lange Stücke geschnitten.
  3. Die Anordnung: Zuerst wurde ein Streifen unterhalb der Brustwarze von der Mitte zur Seite geklebt, dann einer oberhalb. Anschließend folgte ein mittlerer Streifen. Die Brust wurde dabei in Position gedrückt, das Tape selbst aber kaum gedehnt.
  4. Der Trick für extra Halt: „Als meine eigene Erfindung habe ich noch einen vierten Streifen angebracht. Relativ weit unten angesetzt und dann leicht schräg nach hinten oben gezogen und dabei auch wirklich gestretcht. Das hat den entscheidenden Unterschied gemacht.“
  5. Den Kleber aktivieren: Frisch geklebtes Tape hält schlechter. Ein enges Tanktop, das in der ersten Stunde darüber getragen wird, übt leichten Druck aus und hilft dem Kleber, sich vollständig mit der Haut zu verbinden.

Die Kunst des Entfernens: Öl ist alles

Das schwierigste Kapitel laut Vic bleibt das Entfernen. Die Regel lautet: Öl, und zwar in großen Mengen. „Man kann vergessen, Körperöl zu kaufen, das wird viel zu teuer. Ich würde Kokosöl nehmen. Man muss das Tape darin tränken, es einmassieren und mindestens eine halbe Stunde warten. Man darf nicht ziehen. Löst es sich nicht von selbst, war es zu wenig Öl.“, rät Vic.

Leben mit Tape: Duschen, Schlafen und Grenzen

Ein großer Vorteil des Tapens ist nach Vics Aussage die Möglichkeit, es mehrere Tage zu tragen. „Ich habe es teilweise eine, selten auch zwei Nächte drauf gelassen und hatte damit nie Probleme. Es hat sich genauso gut entfernen lassen.“ Auch Duschen ist möglich, wenn man das Tape danach vorsichtig abtupft und an der Luft trocknen lässt. Allerdings verliert es durch Wasser etwas an Wirkung.

Der Preis der Kongruenz: Medizinische Risiken und ihre Ursachen

Diese persönlichen Berichte decken sich mit den Ergebnissen der Forschung. Eine wegweisende Studie von Peitzmeier et al. aus dem Jahr 2017 zeigte, dass über 97 Prozent der Nutzenden negative Nebenwirkungen erfahren. Hautirritationen, Akne, Rücken- und Schulterschmerzen sowie Kurzatmigkeit gehören zu den häufigsten Folgen.

Sicherheitsregeln sind daher überlebenswichtig: Binder maximal acht Stunden tragen, eine Obergrenze, die auch von Trans Care BC empfohlen wird, Pausentage einlegen und niemals damit schlafen. Bei Hautverletzungen durch Tape muss eine Pause eingelegt werden. Ein Erfahrungsbericht warnt zudem eindringlich: „Ich hatte mir im Rücken etwas gezerrt und trotzdem getaped. Das hat die Schmerzen sofort viel schlimmer gemacht.“ Diese Schadensminderung bekämpft jedoch nur die Symptome. Die Ursache für Langzeitschäden wie Rippenverformungen ist oft die schiere Dauer der Anwendung, erzwungen durch monate- oder jahrelange Wartezeiten auf eine Mastektomie.

Keine Dauerlösung: Der Ruf nach besserer Versorgung

Brustbinden ist eine wichtige Überbrückungstechnik. Sie ermöglicht es Menschen, am sozialen Leben teilzunehmen und ihre Dysphorie zu managen. Das Gefühl kann sich sogar echter anfühlen als mit einem Binder, wie Vic berichtet: „Ich konnte mich auch nackt wohler fühlen und hatte weniger das Gefühl, nur mit Hilfsmitteln nach mir auszusehen.“

Aber es darf keine Dauerlösung sein. Die Hautelastizität kann über die Jahre leiden, was die Optionen für eine spätere Mastektomie beeinflussen kann. Viele Chirurg*innen fordern, das Binden oder Tapen einen Monat vor der Operation vollständig einzustellen, damit sich die Haut erholen kann. Der achtsame Umgang mit dem eigenen Körper ist das eine. Das andere ist die gesellschaftliche und medizinische Verantwortung. Solange der Zugang zu einer permanenten Lösung wie der Mastektomie ein langwieriger Kampf bleibt, wird der tägliche Kompromiss auf Kosten der Gesundheit weitergehen. Ein sicherer Umgang mit Bindern ist wichtig. Ein System, das sie für viele überflüssig macht, ist wichtiger.

Den Weg nicht allein gehen: Beratung und Unterstützung

Die Suche nach der richtigen Methode, der Umgang mit Schmerzen oder die Navigation durch das Gesundheitssystem müssen keine einsame Odyssee sein. Unsere erfahrenen Peer-Berater*innen kennen diese Hürden aus eigener Erfahrung und begleiten dich auf deinem Weg.

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