Selbstbestimmungsgesetz – Freiheit 2.0?

Selbstbestimmungsgesetz - eine Einordnung
Selbstbestimmungsgesetz - eine Einordnung

Was bedeutet das Selbstbestimmungsgesetz in der Praxis?

Eine Einordnung v. Julia Steenken

Ob es für Betroffene durch dieses Gesetz leichter geworden ist ihren Geschlechtseintrag berichtigen zu lassen, mag dahingestellt bleiben.

Geschlechtszugehörigkeit: Berichtigt und nicht geändert

Es ist wichtig festzuhalten das die Einträge berichtigt und nicht geändert werden. Dies mag vielleicht technisch kein Unterschied sein, sprachlich und inhaltlich sehr wohl.

Menschen die dem intergeschlechtlich und nicht-binären oder Spektrum (tina) zugerechnet werden bzw. sich diesem zugehörig wissen, haben einen nicht ihrer Lebenswirklichkeit und Selbsterleben entsprechenden Geschlechtseintrag. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) schon 1978 festgestellt, dass es eine Möglichkeit der Berichtigung geben muss. Was daraufhin in Form des sog. Transsexuellengesetz (TSG) umgesetzt wurde. Auch wenn über die Jahre ein Großteil der Voraussetzungen und Anforderungen wegen Verfassungswidrigkeit gestrichen wurden, blieb trotzdem ein sehr aufwendiges und kostspieliges Gerichtsverfahren bestehen. Für dieses mussten zwei psychologische Gutachten, auf eigene Kosten, beigebracht werden.

Selbstbestimmungsgesetz – auch für nicht-binäre und agender Personen

Erst als wieder einmal durch das BVerfG auch nicht-binäre Menschen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig wissen, zugebilligt wurde ein Recht auf einen positiv benannten entsprechenden Geschlechtseintrag zu haben, wurde der Gesetzgeber aktiv. Da sein Gestaltungsspielraum durch die Klagen zum TSG eingeengt war, verabschiedete er mit dem § 45b des Personenstandsgesetzes (PStG) eine Regelung mit der man eine dem TSG entsprechende Berichtigung mittels Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung über das Vorhandensein einer „Variante der Geschlechtsentwicklung“ bewirken konnte.

In diesem Moment war das TSG de facto tot, denn zum einen stellte die Grundsatzentscheidung des BVerfG 1978 schon eindeutig klar, dass Geschlecht letztendlich nicht zwingend an körperliche Gegebenheiten festzumachen ist, was es mehrfach in folgenden Entscheidungen bekräftigte, zum anderen ist es herrschende Meinung, dass trans* bzw. nicht-binäre ein natürliches Phänomen ist, auch wenn man die Ursachen bis heute nicht erschöpfend aufgeklärt hat.

Trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen gab es schon immer, sie sind kein neuzeitliches Phänomen, man hat ihnen nur zu unterschiedlichen Zeiten das Leben unterschiedlich schwergemacht. Dass es sie gibt und ein Recht auf Leben als das was sie sind haben, ist in der Bundesrepublik erst seit 1978 anerkannt. Auf eine vorbehaltlose gesellschaftliche Akzeptanz müssen sie noch immer warten.

Es bleibt fraglich, ob eine einfache Erklärung mit drei Wochen Anmeldefrist, nach oftmals sehr langer Auseinandersetzung mit dem Wissen um sich selbst, auf Grundlage eines Gesetzes, das vielfach von einem tiefsitzenden Misstrauen den Betroffenen gegenüber getragen ist, mit der Kenntnis um das Risiko eines faktischen sozialen Selbstmords und Ausgrenzung, ein Fortschritt ist.

Die Nutznießenden dieser Regelung wissen um ihre Geschlechtszugehörigkeit, sie identifizieren sich nicht nur mit dieser, sie haben sie. Einzig ihre nachgeburtliche Geschlechtszuweisung entspricht dem nicht. Niemand würde bei der geschlechtlichen Zugehörigkeit davon sprechen, dass die Person sich dieser zurechnet da es nun einmal so ist. Warum wird dies bei den Betroffenen dann so explizit in Frage gestellt? Zu behaupten die Biologie bestimmt das, ist zutiefst patriarchalisch und frauenfeindlich. Diese Behauptung reduziert Menschen allein auf ihren Willen oder Fähigkeit zur Fortpflanzung.

Es gibt nun einmal, auch in anderen Bereichen, fehlerhafte Feststellungen, die berichtigt werden. Es sind ganz normale Menschen, Frauen, Männer, nicht-binäre und Menschen ohne Geschlechtseintrag, keine „Transmenschen“ oder „Transpersonen“ (in dieser Schreibweise). Nicht-binäre Menschen haben ein Geschlecht, dieses ist nur nicht eindeutig männlich oder weiblich (binär). Die Gesellschaft sollte endlich aufhören, sie alle wie Aliens zu betrachten und zu behandeln. Die Einsortierung von Menschen in Kategorien und außerhalb davon hat schon oft großes Leid gebracht. Die Gesellschaft sollte daraus gelernt haben.

Auch Kinder und Jugendliche haben Rechte

Die Besonderheiten des im für Minderjährige vorgesehene Verfahren entspricht dem etablierten und akzeptierten Prozedere in anderen Rechtsgebieten. Einzig das sich diese vor einer Erklärung bzw. Berichtigung des Geschlechtseintrags beraten lassen müssen, ist eine Besonderheit. Wie diese im Gesetz recht offen formulierte Anforderung in der Praxis umgesetzt wird und ob sie überhaupt einer verfassungsrechtlichen Überprüfung durch das BVerfG standhält, wird sich zeigen. Hier ist durchaus die Regelung zur Religionszugehörigkeit vergleichbar.

Dass man eine erneute Erklärung erst wieder nach einem Jahr abgeben kann, ist nicht im Sinne von „einmal im Jahr darf man wechseln“ zu verstehen, sondern dient dazu eine gewisse Stabilität in das Verfahren zu bringen bei gleichzeitiger Ermöglichung einer Rückabwickelung bzw. Berichtigung bei Irrtümern und/oder neuen Rechtslagen durch zum Zeitpunkt der Erklärung noch nicht absehbarer Ereignisse. Die Möglichkeit der Streichung bzw. des nicht-binären Geschlechtseintrages „divers“, gibt es noch nicht so lange. Im österreichischen Recht bestehen sogar drei nicht-binäre Geschlechtszugehörigkeiten.

Die zwingende Berichtigung auch des Vornamens trägt der Erwartung Rechnung, dass dieser der Geschlechtszugehörigkeit entspricht. Die vormalige rechtliche Stringenz ist allerdings in Deutschland aufgegeben worden. Aus diesem Grund wird man hier wohl zukünftig wieder zu einer Entkoppelung wie im bisherigen TSG zurückkehren. In der Praxis ist dies faktisch nahezu bedeutungslos. da fast immer mit dem Geschlechtseintrag auch eine Anpassung des Vornamens und bei ausländischen Nachnamen mit geschlechtsspezifischer Endung auch dieser angeglichen wird.

Auch wenn die vom Geschlechtseintrag losgelöste Änderung des Vornamens auf Grundlage des Selbstbestimmungsgesetzes nicht möglich ist, so ist eine solche im Zuge des allgemeinen Namensrechts bereits angedacht. Einen Nutzen hieraus könnten viele Menschen ziehen, die durch ihre Eltern mit problematischen Vornamen benannt wurden.

Wirksameres Offenbarungsverbot

Das vielfach kritisierte vorheriger Geschlechtszugehörigkeit und Vornamen im Selbstbestimmungsgesetz kannte schon das bisherige TSG. Einzig die Strafandrohung ist neu. Es ist leider notwendig und keine Beschränkung der Meinungsfreiheit. Vor dem Hintergrund der vielfachen Anfeindungen denen tina-Personen im Alltag ausgesetzt sind und einer Arbeitslosigkeitswahrscheinlichkeit von über 20% ist es ein Ausfluss der staatlichen Kapitulation vor der gesellschaftlichen Realität. Betroffene wären froh, wenn es dieses nicht mehr zur Durchsetzung ihres verfassungsrechtlich garantierten Rechtes auf Achtung ihrer Person und Freiheit sich zu entfalten bedürfte.

Da hier keine kurz bis mittelfristige Verbesserung zu erwarten ist, bedarf es genau dieses endlich strafbewehrten Offenbarungsverbotes. Das allgemeine Strafrecht ist hierzu nicht bzw. nur unzulänglich in der Lage.

Nachholbedarf oder Hype?

Quantitativ dürfte sich, nach einem kurzzeitigen Anschwellen der Zahl der Anträge, wie bisher auch nach einer grundlegenden Änderung der Rechtslage, nicht viel ändern. Es wird auch weiterhin bei unter einem Prozent der tina Personen in der Bevölkerung bleiben, dafür sprechen Umfragen und statistische Daten aus anderen Ländern. Die effektiven Zahlen schwanken je nach Grundlage der Erfassung. Jährlich dürften zwischen 2000 und 4000 Berichtigungen auf Grundlage des Selbstbestimmungsgesetzes erfolgen.

Das Selbstbestimmungsgesetz regelt keine Gesundheitsleistungen

Es kann nicht genügend darauf hingewiesen werden, dass dieses Gesetz einzig und alleine die Berichtigung des Geschlechtseintrags betrifft. Es bzw. die Berichtigung hat keine Auswirkungen auf insbesondere medizinische Leistungen. Diese sind durch eine jüngste Entscheidung des Bundessozialgerichts momentan ohnehin stark eingeschränkt worden. Aus diesem Grund muss der Gesetzgeber die bisherigen Bestimmungen im Sozialrecht angleichen und die medizinischen Spitzenverbände ein neues Regelwerk erlassen.

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