Gastbeitrag: Warum ich das Selbstbestimmungsgesetz als Psychotherapeutin befürworte

Pressemitteilung zur Bundesratsinitiative zur Erweiterung von Art3GG vom Land Berlin
dgti Pressemitteilung / Stellungnahme
Selbstbestimmungsgesetz - ein Gastbeitrag
Dr. Lara Werksetter zum Selbstbestimmungsgesetz

Dr. Lara Werkstetter arbeitet seit etwa 10 Jahren niedergelassen in eigener Praxis und ist seit mehreren Jahren auf die therapeutische Begleitung von „transsexuellen“ – korrekter formuliert „transidenten“ – Menschen spezialisiert. Sie distanziert sich deutlich von Aussagen ihrer Kollegin Frau Dr. Kraus und nimmt fachlich Stellung zu den Themen Transidentität und Selbstbestimmungsgesetz.


„In meiner therapeutischen Arbeit habe ich inzwischen dutzende transidente Menschen kennengelernt – also Menschen, die sich dem eigenen biologischen Geschlecht nicht zugehörig fühlen, sondern viele davon dem anderen Geschlecht und manche auch keinem („nicht-binäre Menschen“).


Mit großer Verwunderung und einer gewissen Fassungslosigkeit habe ich den Artikel von Frau Dr.
Ingeborg Kraus vom 14.04.2024 zum Thema Selbstbestimmungsgesetz und Transsexualität
gelesen sowie ihr dazu passendes Fernsehinterview gehört. In letzterem heißt es, sie habe die
Berechtigung, entsprechende Gutachten zu erstellen. Gemeint sind offenbar die psychologischen Indikationsschreiben, die Voraussetzung für gegengeschlechtliche Hormontherapie sowie chirurgische Eingriffe zur Geschlechtsangleichung sind. Diese Berechtigung hat jede(r) Psychotherapeut*in. Behandelt habe sie nach eigener Aussage in ihrer bisherigen Laufbahn lediglich vier transidente Klient*innen.

Selbstbestimmungsgesetz ermöglicht keine medizinischen Leistungen


Das Selbstbestimmungsgesetz beschreibt Frau Dr. Kraus als „gefährlich“. Es käme dadurch zu
„Fehldiagnosen mit verheerenden Auswirkungen“. Wichtig ist hier zu betonen, dass das
Selbstbestimmungsgesetz lediglich dazu führt, dass der Vorname und der Personenstand beim
Einwohnermeldeamt ohne die vorherige Erstellung von Gutachten geändert werden können
.
Einen Zugang zu Hormonbehandlungen oder gar chirurgischen Eingriffen ermöglicht dieses
Gesetz nicht. Dazu ist weiterhin eine ausgiebige Diagnostik und die schriftliche Bestätigung durch
eine(n) Psychotherapeut*in notwendig.

Von „verheerenden Folgen“ des Selbstbestimmungsgesetzes kann daher aus meiner Sicht keinesfalls die Rede sein. Stellt ein Mensch tatsächlich nach einigen Monaten oder Jahren fest, dass er oder sie doch nicht transident ist, lassen sich Vorname und Geschlechtseintrag nochmal ändern. Das frühere Verfahren, das zwei unterschiedliche Gutachten für die Änderung des Vornamens und des Geschlechtseintrags forderte, war für Betroffene kostspielig und oft belastend. Die Gutachten konnten in aller Regel nicht durch die Behandler*innen erstellt werden, sodass man sich dafür zusätzlich zwei fremden Menschen hinsichtlich seiner persönlichen Empfindungen öffnen musste. Eine meiner Meinung nach nicht zumutbare Herangehensweise, in deren Abschaffung ich eine deutliche (auch psychische) Entlastung für die Betroffenen sehe.

Der Leidendsdruck von trans* Personen


„Schulen tun das ganz simpel darstellen“, sagt Frau Kraus bezüglich der Geschlechtsangleichung
(früher „Geschlechtsumwandlung“ genannt). „Ein Locken auf den Weg der Transsexualität“ wäre
das. Aufklärungsarbeit in den Schulen (auch hinsichtlich sexueller Orientierung und Transidentität) halte ich heutzutage für absolut notwendig. Dass diesbezügliche Aufklärung bereits ein „Locken“ sein solle, sehe ich nicht. Schließlich wird in Schulen zurecht auch über Drogenkonsum aufgeklärt.

„Bei mir in der Praxis waren praktisch nur Transsexuelle, die nicht zufrieden waren mit dem
Resultat der Operation,“ so Frau Dr. Kraus. Schade ist hier, dass sie von „ganz vielen“ spricht, die
die Entscheidung bereuen würden. Dass sie nur vier Klient*innen persönlich erlebt hat, lässt sie
hier unerwähnt.

Dass „ganz viele“ die Entscheidung bereuen würden, deckt sich keineswegs mit meinen Erfahrungen. Fast alle Menschen, die ich begleitet habe, haben durch die Hormontherapie, eine eventuelle Mastektomie (Entfernung der weiblichen Brust bei Transmännern) oder eventuelle genitalangleichende Operationen und andere Maßnahmen eine große Entlastung verspürt. Jeder Mensch, der mit dem Anliegen Transidentität in die psychotherapeutische Praxis kommt, hat das Recht, dass seine Anliegen sowie seine psychische Situation individuell betrachtet und verstanden werden. Pauschalisierungen sind hier fehl am Platz.

Studien zeigen außerdem, dass die Suizidgefahr unter transidenten Menschen enorm hoch ist.
Dies verdeutlicht, dass die Geschlechtsdysphorie (also das Leiden unter dem Leben in der falschen sozialen Geschlechterrolle und in einem Körper, der dem erlebten Geschlecht (noch) nicht angepasst ist) einen massiven Belastungsfaktor für Betroffene darstellen kann und wie groß die Notwendigkeit ist, diesen Leidensdruck ernst zu nehmen.

Viele transidente Menschen entscheiden sich deshalb auch für den Weg der Transition – also die Anpassung der sozialen Geschlechterrolle (in der Regel verbunden mit der Wahl eines passenderen Vornamens und dem Wunsch nach Verwendung der entsprechenden Anrede und Pronomen) und der äußeren Erscheinung (oft, aber nicht immer auch durch die Einnahme von Hormonen und durch chirurgische Eingriffe). In meiner Praxis zeigt sich immer wieder, wie massiv der Leidensdruck dadurch sinken und die Lebensqualität steigen kann. Auch depressive Symptome sowie soziale Ängste oder Unbehagen in zwischenmenschlichen Situationen nehmen dadurch häufig stark ab.

Detransition, maybe?

Das Bereuen der Entscheidung zur Transition und das eventuelle Anstreben einer (natürlich nur
geringfügig möglichen) Umkehr des Prozesses (die „Detransition“) kommen tatsächlich in wenigen Fällen vor (ich selber habe so einen Fall in meiner Tätigkeit noch nicht erlebt). Eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität und der Entscheidung zur Transition sollte daher immer vorab erfolgen und auch Teil der psychotherapeutischen Behandlung sein. In dieser müssen auch mögliche Ursachen ausgeschlossen werden, die einen Menschen irrtümlicherweise glauben lassen könnten, trans zu sein.

Dies stellt auch einen essenziellen Bestandteil des Indikationsschreibens dar, ohne das es weder Hormone noch operative Eingriffe gibt. „Das Selbstbestimmungsgesetz mit dem Duktus, nichts mehr (aus
therapeutischer Sicht) in Frage stellen zu dürfen“, wie Frau Dr. Kraus schreibt, ist also keinesfalls
gegeben. Eine kritische therapeutische Überprüfung ist nach wie vor Voraussetzung.

Insbesondere die operativen Eingriffe sind teils hochinvasive und komplexe Eingriffe, mit deren
Tragweite und Risiken sich die Betroffenen vorher intensiv auseinandersetzen sollten. Auch die
medizinische Aufklärung sollte diesen Prozess unterstützen. Hier sehe ich teilweise noch Verbesserungsbedarf in manchen Kliniken, da die Betroffenen ein Recht darauf haben, eine
solche Entscheidung gut informiert treffen zu können. Das alles bleibt vom Selbstbestimmungsgesetz unberührt. Eine Änderung des Namens und des Geschlechtseintrags sollte aus meiner Sicht unkomplizierter möglich sein als früher, was dank des neuen Selbstbestimmungsgesetzes der Fall ist.

Die Ausführungen von Frau Dr. Kraus suggerieren außerdem, dass Transfrauen und -männer keine
„richtigen“ Frauen oder Männer wären. Laut ihr sollte man nicht den „falschen Jargon der Transaktivisten repetieren“. Sind hier Begriffe gemeint, die eingeführt wurden, um frühere transfeindliche und diskriminierende Bezeichnungen abzulösen?


Zusammenfassend finde ich die Aussagen der Kollegin irreführend und unsachlich und hoffe, mit
meiner Stellungnahme mehr Einblick in die praktischen Behandlungserfahrungen mit transidenten Menschen gebracht zu haben.“


Dortmund, 08.11.2024
Dr. Lara Werkstetter

Teilen auf:

Weitere interessante Artikel

Drei stilisierte Figuren stehen vor einem dunkelvioletten Hintergrund und halten sich an den Händen. Links ist eine herzförmige Figur in hellem Violett, in der Mitte eine pinke Blütenfigur mit sechs runden Blütenblättern, rechts eine wolkenförmige Figur in hellem Violett. Alle drei haben ovale weiße Gesichter mit einfachen lächelnden Augen.

Trans* – Was heißt das eigentlich? Eine fundierte Analyse von Identität, Recht und Lebensrealität

Der Begriff „trans*“ ist heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen präsent. Trans* zu sein, beschreibt Menschen, die sich nicht oder nicht ausschließlich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Der Begriff leitet sich vom lateinischen Wort „trans“ ab, das „jenseits“ oder „hinüber“ bedeutet. Das Sternchen (Asterisk) ist

Weiterlesen »
Das Maskottchen der dgti und und eine hellviolette herzförmige Figur stehen im Regen. Die herzförmige Figur hält einen großen schwarzen Regenschirm, der beide schützt. Um sie herum fallen dunkelviolette Regentropfen vor einem dunklen Hintergrund. Beide Figuren haben einfache, freundliche Gesichter.

Resilienz und mentale Gesundheit für trans*, inter* und nicht-binäre Menschen, und warum sie auch im Job zählt

Resilienz bedeutet seelische Widerstandskraft: also die Fähigkeit, mit Belastungen umzugehen und wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Für trans*, inter* und nicht-binäre (TIN*) Menschen ist sie kein Trendwort, sondern oft eine alltägliche Herausforderung. Das betrifft das Leben, den Umgang mit anderen und den Beruf. Minderheitenstress: Wenn Belastung Alltag ist Viele Studien

Weiterlesen »
Pressemitteilung: 1 Jahr Selbstbestimmungsgesetz

1 Jahr Selbstbestimmungsgesetz – Bilanz und offene Baustellen

Fortschritt mit Lücken Ein Jahr nach Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes (SBGG) zeigt sich: Viele Menschen haben lange auf diesen Schritt gewartet. Seit dem 1. November 2024 wurden über 22.000 Vornamens- und Personenstandsänderungen gemeldet. Trans*, inter* und nicht-binäre Personen können ihr Geschlecht nun selbst bestimmen, ohne medizinische Gutachten oder Gerichtsbeschlüsse. Das Gesetz beendet eine

Weiterlesen »
Handwerkszeug für die Arbeit mit transgeschlechtlichen und geschlechtsdiversen Menschen mit Transitionswunsch am 30. Januar 2026 - Eine Fotbildung für psychotherapeutisch Tätige Personen

Handwerkszeug für die Arbeit mit transgeschlechtlichen und geschlechtsdiversen Menschen mit Transitionswunsch – Fortbildung am 30.01.2026

Fortbildung für psychotherapeutisch tätige Personen Durchgeführt von Cornelia Kost, Adan Geißendörfer und Flora Buczkowski. In dieser Fortbildung soll ein Beitrag dazu geleistet werden die Versorgungslücke zu schließen, indem Sie befähigt werden transgeschlechtliche Menschen effizient in ihren Prozessen zu begleiten. Für wen ist die Fortbildung geeignet? Psychotherapeutisch tätige Personen mit und

Weiterlesen »
Logo der dgti e.V.

Spenden Sie für unsere Arbeit

Datenschutz
, Inhaber: (Firmensitz: Deutschland), verarbeitet zum Betrieb dieser Website personenbezogene Daten nur im technisch unbedingt notwendigen Umfang. Alle Details dazu in der Datenschutzerklärung.
Datenschutz
, Inhaber: (Firmensitz: Deutschland), verarbeitet zum Betrieb dieser Website personenbezogene Daten nur im technisch unbedingt notwendigen Umfang. Alle Details dazu in der Datenschutzerklärung.